Männer in hautenger Lycrakleidung sind zwar nicht das Thema dieses Artikels, weisen aber auf einen Teilaspekt der Szene hin, um die es hier geht. Du liegst richtig: Radsport! But wait, there is more! Als ich mich im Frühjahr diesen Jahres mehr mit Radsport und Radkultur beschäftigt habe, bin ich auf den sympatischen, türkischen Autor Gökhan Kutluer gestoßen. Gökhan wurde 1986 in Istanbul geboren, wo er durch seinen Blog sowie Arbeiten für Radsportmagazine als Experte in der Radszene bekannt wurde. Mit seinen Büchern über die türkische Gesellschaft und seine Auswanderung hat er darüber hinaus auch in intellektuellen Kreisen Menschen erreicht, die keinen Bezug zum Radsport haben. Auch wenn das Fahrrad immer Teil seiner Erzählungen sein sollten.
Nun, ich spreche kein Türkisch, doch seine Beiträge auf Twitter, Instagram und Co. triggerten in mir genau die Sensoren, die mich am Thema Fahrrad begeistern: Draußen sein, Ausflüge, Weite, Entdeckergeist, Genuss und Style. Zum Zeitpunkt unseres ersten Kontakts lebte er im schönen Bergamo in Italien. Wir verabredeten uns im Frühjahr 2020 zu einem Shooting für eine Bilderserie in den Bergen sowie für ein Interview. Vor meinem geistigen Auge sah ich bereits die Bilder von Bergpanoramen und den romantischen, alten italienischen Gassen. Uns kam wie so viele Corona dazwischen: Italien im Lockdown. Nachdem die Grenzen wieder geöffnet waren und ich Gökhan erneut kontatkierte, war er bereits im Umzugsstress nach Berlin. Dort habe ich ihn schließlich im Spätsommer getroffen. Fast forward…
„Meine Leidenschaft für das Fahrradfahren habe ich auf einer mehrtägigen Radreise in Norwegen entdeckt“, erzählt mir Gökhan auf dem Balkon seiner Berliner Wohnung. Wir befinden uns in der Nähe vom Alexanderplatz. „Es war um mich geschehen. Dieses Freiheitsgefühl und die körperliche Herausforderung haben mich begeistert. Nirgendwo konnte ich vorher so gut klare Gedanken fassen, wie auf dem Rad. Ich beschloss direkt nach meinem Studium in der Radsportbranche Fuß zu fassen und so viel wie möglich über diese Kultur zu lernen. Meinen Einstieg fand ich bei dem türkischen Vertreiber von Specialized-Fahrrädern, direkt im Shop. Das war eine schöne Zeit, denn meine Kollegen waren sowohl leidenschaftliche Radfahrer als auch gute Freunde.“
„Wenn ich auf dem Rad unterwegs bin, kann ich am besten nachdenken.“
Gökhan Kutluer
Aus den vielen Gesprächen, die im Shop mit den Kundinnen und Kunden geführt wurden habe ich unglaublich viel gelernt. Ich startete in dieser Zeit einen eigenen Blog rund um das Thema Fahrradkultur und teilte meine neu erworbenen Kenntnisse. Ich hatte Marketing studiert, ein gewisses Talent fürs Schreiben und traf scheinbar einen Nerv. Diese Mischung half dabei, dass der Blog schnell zu einer gewissen Bekanntheit in der Türkei führte und ich zu einer Art Experte für das Thema Radkultur wurde. Ein Fahrrad war damals vor allem ein Fortbewegungsmittel und die Radszene erst im Entstehen.“
Hinter mir die Heimat – Vor mir die Zukunft
Durch den Erfolg seines Blogs sind verschiedene Medien auf ihn aufmerksam geworden: Magazine, Zeitungen und Dokumentationen. Er bekam das Angebot für die türkische Ausgabe des Cyclist als Senior Editor zu schreiben und befand sich innerhalb kurzer Zeit im Zentrum des Radsports. Darüber hinaus setzte er sein Talent und seine Leidenschaft für das Schreiben von Büchern ein. In seinem ersten Buch „Bulut Fabrikasi“ (Cloud Factory) beschreibt er in mehreren Kurzgeschichten die türkische Gesellschaft. Es wird so erfolgreich, dass daraus ein Theaterstück entsteht. In seinem zweiten Buch – „Türkiye’den Gitmek“ (englische Version: Leaving One´s Comfort Zone – The Story of a Move to Italy) verarbeitet er seine Auswanderung aus der Türkei nach Italien.
„Die Türkische Politik hat innerhalb von wenigen Jahren unsere Wirtschaft und unsere gesellschaftlichen Fortschritte zunichtegemacht. Es herrschte Perspektivlosigkeit für meine Generation und die, die uns folgen. Für mich war klar, dass ich meine Heimat verlassen muss, um mich weiterentwickeln zu können: Gerade die Radbranche hatte wenig Zukunft in der Türkei, da Radsport ein Luxusgut ist, das sich in der wirtschaftlichen Situation nur wenige leisten wollen und können“, beschreibt Gökhan seine Motivation für die Auswanderung. Italien habe ihn dabei schon immer gereizt, denn es ist ein Land mit einer sehr großen Radsporttradition. Er packte seine Sachen und zog mit nicht viel mehr, als einem Touristenvisum in der Hand los. In Italien fand er durch seine Verbindungen und seinen guten Ruf schnell bei großen Marken, wie Basso, 3T oder Stelbel Engagements.
Seine ersten Erfahrungen mit Deutschland macht er bei der Radsportmarke Canyon in Koblenz. Dort war er als Social Media Manager tätig. Während er starke Sympathien für das Land entwickelte, wurde er mit Koblenz nicht so warm. Er zog zurück nach Italien, nach Bergamo. Doch Deutschland lässt ihn nicht los. Vor allem Berlin fasziniert ihn. Er beschließt seine Zelte in Italien abzubrechen und zieht nach Berlin. Während seine Katze um unsere Beine streift und uns die Sonne des Spätsommers ins Gesicht scheint, sprechen wir noch eine Weile über sein aktuelles Buchprojekt, die englische Übersetzung seines Buches „Bulut Fabrikasi“ und sein neues Leben in Berlin. „Roadbiken in Berlin kann man leider echt vergessen. Ich fahre zwar jeden Tag mit meinem Rad, aber es ist mehr der Daily Commute, als Sport. Aber das ist schon ok, denn erstens kann ich damit trotzdem die Stadt entdecken und zweitens bietet Berlin so viel, dass das momentan ein akzeptables Tauschgeschäft für mich ist“, erzählt er ohne Wehmut. Momentan findet man ihn ohnehin fast jeden Abend in BeachMitte mit Freunden. Ob Berlin das Zeug zu seiner neuen Heimat habe, frage ich ihn. „Berlin ist großartig und ich werde hier ganz sicher eine ganze Weile bleiben.“
Eine Runde um den Block
Es wird Zeit, das Wetter ist gigantisch und die Sonne steht noch nicht zu hoch für unser Shooting. Gökhan arbeitet mittlerweile für die Berliner Radmanufaktur Standert. Heute ist der offizielle Verkaufsstart des neuen Standert Pfadfinders, das er für unser Shooting gestellt bekommen hat. Ein ziemlich scharfes Gerät mit einem Highlight, dass mich als alten Technikfan sofort begeistert: kabellose Schaltung! Macht das Sinn? Ist doch egal!
Unser Plan für den Rest des Vormittags: Seine tägliche Radroute abfahren, dabei ein paar Fotos machen, guten Espresso trinken, Kuchen essen, lachen und eine gute Zeit haben. Der Plan ging auf, was man den Fotos meiner Meinung nach auch ansieht.
Mehr über Gökhan Kutluer
Web: https://gokhankutluer.com/
Instagram: https://www.instagram.com/gokhankutluer
Buch: Leaving Ones´Comfort Zone – The Story of a Move to Italy
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